Ich habe gerade einen Kommentar gelesen, in dem ein Zeitgenosse darüber räsoniert, warum Abgeordnete nicht von ihrer Partei bezahlt werden – schließlich bekämen die Parteien doch genug Geld. Und dass Abgeordnete auch noch neben dem Mandat berufstätig sind, findet er ganz schlimm!
Für mich ist das ein Indiz dafür, wie weit unser Verhältniswahlrecht mit seinem Vorrang der Listenstimme (Zweitstimme) bereits die Gedanken der Menschen korrumpiert hat. Der Gedanke des freien und unabhängigen Mandats ist für manche Leute schon nicht mehr präsent; vielmehr sehen sie inzwischen die Abgeordneten nur noch als „Zählstimmen“, die den Prozentsatz ihrer Fraktionen im Parlament umzusetzen haben. Da hinein passen auch Überlegungen, im Zuge einer Wahlrechtsreform den Wert der Erststimmen und damit des Direktmandats noch weiter zurückzudrängen als es heute durch Ausgleichs- und Überhangmandate bereits geschieht.
Ich finde: das immer mehr – nicht zuletzt auch durch die Judikatur des Verfassungsgerichts – ausufernde Übergewicht der Verhältniswahl vor der Mehrheitswahl gehört reformiert. Ich wünsche mir freie Abgeordnete, für die die Menschen in ihrem Wahlkreis höhere Bedeutung haben als die Linie ihrer Partei bei der Aufstellung von Landeslisten. Das heißt ja nicht, dass ein alleiniges Mehrheitswahlrecht wie in Großbritannien geschaffen werden müsste. Dem könnte aber das sog. „Grabenwahlrecht“ weiterhelfen, in dem ein Teil des Parlaments (etwa ein Drittel oder die Hälfte) den Direktmandatsträgern zugeordnet wird und der andere Teil nach den Grundsätzen der Verhältniswahl besetzt wird – ohne Ausgleichs- und Überhangmandate. Willkommener Nebeneffekt wäre, dass die Größe des Parlaments im Voraus bekannt ist und nicht immer wieder schwankt, idR also bis zur baldigen Funktionsunfähigkeit vergrößert wird, je mehr Menschen ihre Wahlentscheidung „splitten“.
Sage keiner, das sei nicht demokratisch: es wird ja wohl niemand allen Ernstes behaupten, Großbritannien, die Wiege unseres modernen Parlamentarismus mit seinem reinen Mehrheitswahlrecht, sei nicht demokratisch verfasst. Um so weniger wäre ein „Grabenwahlrecht“ als Kombination von Verhältnis- und echter Mehrheitswahl demokratisch fragwürdig.